Wie sieht ein Leitfaden für Fotografie aus? Eine wunderbare Neuerscheinung

Um es sofort klar zu sagen: Dieses Buch gehört in jede anständige Foto-Bibliothek! Man muss es nicht uneingeschränkt lieben, man kann das Konzept dieses Buches kritisieren, aber es ist ein toller Fundus der Anregungen für Foto-Historiker*innen wie -Theoretiker*innen.

Wer möchte, kann die Lektüre dieser kurzen Rezension nun schon beenden – obwohl man natürlich vielleicht auch neugierig auf Differenzierungen sein dürfte. Wer wirklich mehr wissen möchte, sollte weiterlesen und wird sich vielleicht selbst die Frage stellen: Ein “Field Guide” – klingt cool, aber was ist das eigentlich im musealen Zusammenhang? So exotisch dieser Begriff zunächst klingen mag, so durchaus gebräuchlich ist er tatsächlich im kulturellen Feld der angelsächsischen Sprache – wie ein kurzer Blick in unser allwissendes Literatur-Instrumentarium “Kubikat” verrät. Was aber verbirgt sich im Falle des soeben erschienen „Field Guide to Photography and Media“ des Art Institute of Chicago dahinter?

Das lässt sich leicht beantworten mit dem Hinweis auf einen einführenden Text zur Geschichte der Foto-Sammlung des Art Institute von Matthew S. Witkovsky und den insgesamt 75 Stichworten, welche Schneisen in die Sammlung schlagen und diese mit ausgewählten Beispielen vorstellen. Sofort beginnen aber erneut Fragen, denn um welche Stichworte handelt es sich hier? Sie reichen von „Abjection“ (erstaunlich), „Abstraction“ (erwartbar), über „Document“, „Ostension“, „Pose“ oder “Surface“ bis hin zu „Violence“ und „Witness“. Diese Auswahl ist natürlich diskutabel, entspricht aber im Stil jener Zusammenstellung von Glossaren, die in den vergangenen Jahren zunehmend in Ausstellungs-Publikationen zu finden sind: Die Kartografierung der Welt, Suggestion von Übersichtlichkeit, Schaffen von Allgemeinwissen, didaktische Verschulung – oder wie möchte man diese aktuell so modische Tendenz klassifizieren? Den jeweils einseitig gedruckten Kurzeinträgen zu Schlagworten folgen im Chicagoer Field Guide sodann drei bis sieben Abbildungsseiten, welche einen historisch wie auch stilistisch möglichst diversen Einblick in die Foto-Sammlung des großen amerikanischen Museums eröffnen. Man spürt anhand dieser Artikel förmlich, dass diese Sammlung viel viel größer ist, bekommt so aber zumindest eine Idee von einem Bestand, der über die Homepage des Art Institutes in einem Umfang von aktuell 23.791 Einträgen detaillierter digital abfragbar ist.

Gerade vor diesem Hintergrund offenbart sich erneut, dass das klassische Format des Buches offensichtlich noch nicht ausgedient hat. Von der Unübersichtlichkeit zur Auswahl von ca. 400 Abbildungen und 75 Stichworten, die eine Orientierung suggerieren. Das 424 Seiten umfassende, von der noblen Yale University Press verlegte Klotz besitzt dabei Züge eines Coffee table-books, was allein schon durch Einband in ein graugrünes Wildleder unterstrichen wird und den Händen schmeichelt. Darf man das für den Preis von 65 $ erwarten?

Aber kommen wir noch kurz zum Inhalt. Wer den Autor und Kurator Matthew Witkovsky kennt, weiß, dass man wirklich stets profundes und gut durchdachtes Wissen von ihm erhält. Da macht auch sein 15-seitiger Beitrag über die Geschichte der Sammlung seit 1900 keine Ausnahme: hochinteressant! Worüber man dann diskutieren könnte und vielleicht auch muss, ist die Auswahl der 75 Begriffe. Allerdings provoziert dies allein schon das ausgewählte Konzept dieses Field Guides. Dort müsste die von mir an dieser Stelle keineswegs eingeleitete Diskussion ansetzen. Wie bereits oben angedeutet, hätte man sicher auf den ein oder anderen Begriff verzichten können, wohingegen der subjektive Blick anderes gewünscht hätte, aber diese Diskussion ist letztlich müßig – genauso wie die Detailkritik einzelner Beiträge. Lesenswert sind sie aber allemal. Auffällig ist die Auswahl der Autor*innen, welche die Crème de la crème der angelsächsischen Foto-Literatur versammelt (Ausnahme: die Integration des Franzosen Georges Didi-Huberman) und dabei zusätzlich auch Fotograf*innen wie Dawoud Bey, Liz Deschenes, Tacita Dean, Martha Rosler, Christopher Williams oder Jeff Wall integriert.

Kurzum: Eine machtvolle, kluge Geste der Selbstdarstellung einer der künstlerisch wichtigsten und ältesten Foto-Sammlungen der amerikanischen Ostküste!

Stefan Gronert

…ist Kurator für Fotografie am Sprengel Museum Hannover

The Art Institute of Chicago Field Guide to Photography and Media, ed. by Antawan I. Byrd/Elizabeth Siegel/Carl Fuldner, New Haven/London: Yale University Press 2023

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

7 + = 11